Als wolle sie die Welt streicheln (2024)

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Von: Arno Widmann

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Als wolle sie die Welt streicheln (1)

„Frausein“: Mely Kiyak hat ein so persönliches wie weltoffenes Buch geschrieben über die Liebe zum Leben.

Ein verführerischer Anfang: „Eines Morgens wachte ich auf und sah die Welt verschwinden.“ Ein schöner Satz. Aber er ist von Mely Kiyak. Also stimmt er auch. Er ist keine Metapher. Er beschreibt, was geschieht. Der kurze Absatz endet mit den Worten: „Es dauerte bis zum späten Nachmittag, bis aus meinem Augenlicht allmählich Augendämmerung wurde. Und dann Dunkelheit.“ Eine Augenkrankheit, die die Autorin über Jahrzehnte ignoriert hatte, verschafft sich in einer Beinahe-Erblindung Aufmerksamkeit. Es folgen Medikamente, Operationen, Fehloperationen. Eine Geschichte, die allein ausreichte für einen langen Roman. Aber die Erkrankung und die weitgehende Genesung sind nur ein Thema dieser Folge aufschreckender und heiterer Etüden. Sie wird zusammengeschlagen in einer Telefonzelle. Sie kommt wieder auf die Beine. Auch Dank der Unterstützung einer Frau, die zu ihrer Freundin wird.

Die Autorin wurde in eine kurdisch-alevitische Familie geboren. Die Eltern arbeiteten in Deutschland. Der Vater in der Fabrik, die Mutter als Putzfrau. Sie ist die erste, die Abitur machte, die erste, die studierte. Sie lebt seit vielen Jahren gut als Kolumnistin und Buchautorin. Den sozialen Aufstieg hat sie geschafft. Wie das ging und geht ist ein anderes Thema des Buches. Dazu gehört immer „der Abschied von den Eltern“, dazu gehört auch, von den Verwandten in dem anatolischen Dorf als etwas Besonderes betrachtet zu werden, als eine, auf die man stolz ist, die aber nicht mehr so recht dazugehört.

Am Ende sagt sie „Auf die ehrlich an mich selbst gestellte Frage, womit ich am zufriedensten und ruhigsten war, lautet die Antwort: mit mir. Einfach nur mit mir.“ Nein, das ist nicht das Ende. Mely Kiyak ist erst 44 Jahre alt und das steht auch schon auf Seite 110 des Buches. Danach geht es noch „über die Schönheit der Welt und darüber, in ihr zu leben.“ Sie erzählt noch von den drei großen Geschenken, die sie von Männern erhielt: „Das erste Geschenk bekam ich von meinem Vater, seine Erziehung. Das zweite Geschenk machte der Liebhaber mit der ersten Nacht. Das dritte Geschenk machte die Lebensliebe. Er ließ mich ziehen.“

„Frausein“ ist eine Folge von Beobachtungen, von Szenen und Dialogen. Umwerfend komisch ist die Schilderung ihrer Großmutter, die sich gerne in Schimpfkanonaden hineinsteigerte, in verbale Vernichtungsfeldzüge, die aus ihr eine einsame Frau machten. Als die Großmutter physisch dazu nicht mehr in der Lage ist, da spielt die Familie ihre Ausfälle nach bis alle vor Lachen nicht mehr können. Wie Mely Kiyak das erzählt! Sie reißt die Leserinnen und Leser mit. Man sehnt sich nach diesem kleinen Haus in Anatolien mit den Leuten, die einander auf so großartige Weise auf den Wecker gehen.

Mely Kiyak hat gelernt, wie man eine Geschichte erzählt

Der Leser begreift, dass sie daher kommt, dass sie dort gelernt hat, wie man eine Geschichte erzählt, wie man ablenkt und kurz vor dem Höhepunkt ein Päuschen einlegt, damit die Pointe desto effektvoller hinausknallen kann. Aber wer liest, wie sie am Literaturinstitut von Herta Müller heran- und auseinander genommen wurde, der erkennt, dass sie beide Schulen absolviert hat. Sie weiß, wie man ein Publikum unterhält, ja es in Spannung versetzt und wie man – damit untrennbar verbunden – schöne Literatur macht. Das ist ihr noch niemals so geglückt wie in diesem Buch, das ihr persönlichstes und ihr weltoffenstes zugleich ist.

Mely Kiyak ist eine begnadete Polemikerin, das wissen die Leser ihrer Kolumnen. Eine, die genau hinschaut und vernichtend zuschlagen kann. In „Frausein“ sieht sie nicht weniger genau hin. Aber es ist, als wolle sie die Welt streicheln. Als sie erkrankt und nichts mehr sieht, liegt sie in der Notaufnahme und hat „Schwierigkeiten, die Liege und das Gefühl meines Körpers darauf zu koordinieren. Man fühlt und fühlt doch nicht. Ich wusste, ich muss mich retten. Ich sprach zu mir selbst. An diesen Worten hielt ich mich in den kommenden Stunden, Monaten und Jahren fest: ‚Ich akzeptiere alles. Ich akzeptiere alles’.“ Kein Mely-Kiyak-Satz. Aber jetzt ist er doch einer geworden. Kein Akt der Resignation. Ein Sprung ins Leben. Eine Kampfansage auch. „Komme, was da wolle“, sagt er, „ich bin bereit.“ Es ist dieser Mut, der das Buch so hinreißend macht.

Und dass es den kleinen Mut nicht vergisst, den es kostet, sich vor den Spiegel zu stellen und sich anzuschauen. Wenn man aber kaum noch etwas sieht beim Blick in den Spiegel, weil die Augen versagen, dann wird dieser kleine Mut, den wir alle am Morgen im Badezimmer aufbringen, zu einem ganz großen Mut. Denn es ist ein letzter Blick, einer für das Gedächtnis, das, wenn man nichts mehr sieht, sich daran erinnern können soll, wie man einmal aussah. Dieser Blick wird zu einem „Abschied von mir selbst“. Glücklicherweise ein Irrtum, wie sich später herausstellt. Die Autorin sieht inzwischen wieder besser. Der Beleg liegt vor uns. Sie hätte das Buch nicht schreiben können, wenn sich nichts gebessert hätte seit damals.

So kann sie uns davon erzählen, wie sie sich, als sie ein Mädchen war, hineinträumte in die Prospekte, die sie in ihrem Briefkasten fand. Sie dachte sich die Köpfe der Damen weg, die elegant in ihren Wohnküchen standen, in den Couchgarnituren Platz genommen hatten und träumte ihren eigenen Kopf hinein. Es gehört aber zum Frausein der Autorin, dass sie sich nicht nur von der Welt ihrer Eltern trennte, sondern auch von der, in die sie sich als Kind mit solcher Inbrunst hineinträumte. Sie ist keine Prospekt-Frau geworden. Sie wollte keine mehr werden. Der Weg zu sich selbst ist der, auf dem man sich verabschiedet von sich selbst.

Mely Kiyak: Frausein. Hanser, München 2020. 127 Seiten, 18 Euro.

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